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A review by leas_bookworld_
Zeitzuflucht by Georgi Gospodinov
4.0
Gaustín wandelt wie ein zeitloser Flaneur durch die Straßen, ein Relikt vergangener Epochen. Sein Kleidungsstil ist altmodisch, seine Ohren lauschen den Klängen längst vergangener Jahrzehnte, und sein Büro strahlt den Charme der 1960er Jahre aus. Doch als er feststellt, dass die vertraute Umgebung vergangener Zeiten einen positiven Einfluss auf Alzheimer-Patienten hat, fasst er einen außergewöhnlichen Entschluss. Er gründet in Zürich* eine Klinik für die Vergangenheit - ein Ort, an dem jedes Stockwerk einer anderen Dekade gewidmet ist, um den Menschen Trost zu spenden. Die Patienten finden in den liebevoll rekonstruierten Räumen nicht nur Erinnerungen, sondern auch Frieden und Geborgenheit. Doch bald schon interessieren sich nicht nur die von Krankheit Gezeichneten für Gaustíns Konzept. Gesunde Menschen suchen ebenfalls Zuflucht in dieser Oase der Nostalgie, wo sie dem hektischen Treiben der Gegenwart entfliehen können. Das Modell der Klinik greift über die Grenzen der Gesundheit hinweg und erobert andere Lebensbereiche. Menschen jeden Alters und Gesundheitszustands finden hier einen Ort der Ruhe und des Rückzugs, um in vergangenen Zeiten zu schwelgen und sich den Herausforderungen des modernen Lebens zu entziehen. Gaustíns Klinik für die Vergangenheit wird so zu einem Ort der Heilung und des Trostes für die Seelen der Menschen, die in der Gegenwart verloren zu sein scheinen.
(*eine Anspielung auf die seltsame Zeitlosigkeit der Schweiz aufgrund ihrer Neutralität und der Anwesenheit von Dignitas)
Gaustín ist sozusagen der unsichtbare Doppelgänger, den wir alle haben, und er kann alles sein, was wir nicht sind, weil er nicht durch die Zeit begrenzt ist: Er ist das Ergebnis der Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben. Nun gründet Gaustín zunächst eine Klinik für Alzheimer-Patienten, die aus Räumen besteht, die in den verschiedenen Jahrzehnten des 20. Immer mehr Kliniken wie diese entstehen, und gesunde Menschen wollen sich in den Zeitschutz dieser Kliniken zurückziehen, um der Gegenwart und einer Zukunft zu entfliehen, an die sie nicht mehr glauben, bis der ganze Kontinent darüber abstimmt, in welchem Jahrzehnt der Vergangenheit das Land in Zukunft leben will.
Die Geschichte ist somit eine Allegorie darauf, dass wir als Individuen die Vergangenheit idealisieren, und jedes Land in Europa sieht aufgrund historischer Umstände einen anderen Zeitrahmen als sein goldenes Jahrzehnt an: Der Kontinent fällt in Zeitkapseln. Aber die Vergangenheit kann nicht wirklich nachgespielt werden, weil die Zukunft nicht in eine Version der Vergangenheit verwandelt werden kann - was uns zur politischen Dimension der neuen
faschistischen Politiker bringt, die versprechen, Land XY wieder groß zu machen.
Findet die Ich-Figur in diesem simulierten Kinderzimmer also auch die "Zuflucht vor anderen Zeiten", von der Gaustin spricht? Eine Art simulierte Vergangenheit, die auch dann Schutz bietet, wenn die Welt jetzt oder in naher Zukunft unterzugehen droht? Und damit Schutz bietet vor dem Vergessen des Alters, aber auch vor allerlei anderen Bedrohungen, die die Gegenwart bietet? Die Ich-Figur hat jedenfalls ein großes und wachsendes Bedürfnis nach einem solchen Zufluchtsort
Gospodinov spielt mit der Vergangenheit durch Reisen und Erinnerungen, in einer labilen und flüssigen Grenze, in der sich die Definitionen von Traum und Erinnerung gegenseitig beeinflussen, bis sie nicht mehr miteinander identifizierbar sind.
Sehr schön fand ich die intimeren Seiten, in denen die persönliche Erinnerung des Autors zum Vorschein kommt. Die Zeit wird zu einem Raum, in dem man Zuflucht findet, zu einem erzählerischen Mittel, um in eine neue Dimension vorzudringen und zu zeigen, wie das Geschehene zurückkehren kann und, dass der Mensch selbst unbewusst ein Tier ohne Gedächtnis ist, das sich nicht an seine Fehler erinnern kann.
Die ersten Teile - die Klinik über die Vergangenheit und das Referendum über die Vergangenheit - scheinen zwei alternative Ansätze für die Geschichte zu sein, zwischen denen sich Gospodinov nicht entscheiden konnte, so dass er sie beide belässt. Die beiden Teile sind für sich genommen interessant, bleiben aber in der Luft hängen. Für mich fehlte der rote Faden, um das Persönliche mit dem Öffentlichen auf überzeugende Weise zu verbinden. Gaustín, der mögliche rote Faden, hat sich einfach in Luft aufgelöst.
Der Glaube an eine "Zeitzuflucht" ist also nach diesem Roman eine Illusion, so verständlich und vielleicht sogar unverzichtbar dieser Glaube auch sein mag. Denn die Zeit entgleitet uns, und eine "Zuflucht" in der Vergangenheit ist nirgends zu finden. Und schon gar nicht eine Zuflucht, die uns vor dem Verlust des Alterns oder vor katastrophalen Zeiten der Weltgeschichte schützt. Das ist eine ziemlich melancholische Botschaft, und deshalb ist dieser Roman oft ziemlich trostlos. Aber das stört mich nicht: So ist das Leben nun mal, und man muss sich damit abfinden. Und ich denke, dieser Roman hilft dabei, indem er die Melancholie in einem so schönen Stil und einer so schönen Form einfängt. Außerdem bewundere ich den Erfindungsreichtum dieses Romans, den sprudelnden Reichtum an Nebenpfaden und Ideen, die Schönheit der Gedankenexperimente, den spielerischen und phantasievollen Aufbau und die oft so schönen Formulierungen. Deshalb habe ich ihn mit einem breiten Grinsen gelesen.
(*eine Anspielung auf die seltsame Zeitlosigkeit der Schweiz aufgrund ihrer Neutralität und der Anwesenheit von Dignitas)
Gaustín ist sozusagen der unsichtbare Doppelgänger, den wir alle haben, und er kann alles sein, was wir nicht sind, weil er nicht durch die Zeit begrenzt ist: Er ist das Ergebnis der Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben. Nun gründet Gaustín zunächst eine Klinik für Alzheimer-Patienten, die aus Räumen besteht, die in den verschiedenen Jahrzehnten des 20. Immer mehr Kliniken wie diese entstehen, und gesunde Menschen wollen sich in den Zeitschutz dieser Kliniken zurückziehen, um der Gegenwart und einer Zukunft zu entfliehen, an die sie nicht mehr glauben, bis der ganze Kontinent darüber abstimmt, in welchem Jahrzehnt der Vergangenheit das Land in Zukunft leben will.
Die Geschichte ist somit eine Allegorie darauf, dass wir als Individuen die Vergangenheit idealisieren, und jedes Land in Europa sieht aufgrund historischer Umstände einen anderen Zeitrahmen als sein goldenes Jahrzehnt an: Der Kontinent fällt in Zeitkapseln. Aber die Vergangenheit kann nicht wirklich nachgespielt werden, weil die Zukunft nicht in eine Version der Vergangenheit verwandelt werden kann - was uns zur politischen Dimension der neuen
faschistischen Politiker bringt, die versprechen, Land XY wieder groß zu machen.
Findet die Ich-Figur in diesem simulierten Kinderzimmer also auch die "Zuflucht vor anderen Zeiten", von der Gaustin spricht? Eine Art simulierte Vergangenheit, die auch dann Schutz bietet, wenn die Welt jetzt oder in naher Zukunft unterzugehen droht? Und damit Schutz bietet vor dem Vergessen des Alters, aber auch vor allerlei anderen Bedrohungen, die die Gegenwart bietet? Die Ich-Figur hat jedenfalls ein großes und wachsendes Bedürfnis nach einem solchen Zufluchtsort
Gospodinov spielt mit der Vergangenheit durch Reisen und Erinnerungen, in einer labilen und flüssigen Grenze, in der sich die Definitionen von Traum und Erinnerung gegenseitig beeinflussen, bis sie nicht mehr miteinander identifizierbar sind.
Sehr schön fand ich die intimeren Seiten, in denen die persönliche Erinnerung des Autors zum Vorschein kommt. Die Zeit wird zu einem Raum, in dem man Zuflucht findet, zu einem erzählerischen Mittel, um in eine neue Dimension vorzudringen und zu zeigen, wie das Geschehene zurückkehren kann und, dass der Mensch selbst unbewusst ein Tier ohne Gedächtnis ist, das sich nicht an seine Fehler erinnern kann.
"Ist dieses Buch über die Vergangenheit nicht letztlich ein Versuch, an jenen heilsamen Ort zu gelangen, wie weit zurück auch immer die Zeit liegen mag, an dem die Dinge noch intakt sind [...] Ich sage Ort, aber es geht um die Zeit, einen Ort in der Zeit. Ein Rat von mir: Besuchen Sie niemals nach langer Abwesenheit den Ort, den Sie als Kind verlassen haben. Er ist verändert, von der Zeit gezeichnet, verlassen, geisterhaft.
Dort. Er ist nicht da. Nichts. "
Die ersten Teile - die Klinik über die Vergangenheit und das Referendum über die Vergangenheit - scheinen zwei alternative Ansätze für die Geschichte zu sein, zwischen denen sich Gospodinov nicht entscheiden konnte, so dass er sie beide belässt. Die beiden Teile sind für sich genommen interessant, bleiben aber in der Luft hängen. Für mich fehlte der rote Faden, um das Persönliche mit dem Öffentlichen auf überzeugende Weise zu verbinden. Gaustín, der mögliche rote Faden, hat sich einfach in Luft aufgelöst.
Der Glaube an eine "Zeitzuflucht" ist also nach diesem Roman eine Illusion, so verständlich und vielleicht sogar unverzichtbar dieser Glaube auch sein mag. Denn die Zeit entgleitet uns, und eine "Zuflucht" in der Vergangenheit ist nirgends zu finden. Und schon gar nicht eine Zuflucht, die uns vor dem Verlust des Alterns oder vor katastrophalen Zeiten der Weltgeschichte schützt. Das ist eine ziemlich melancholische Botschaft, und deshalb ist dieser Roman oft ziemlich trostlos. Aber das stört mich nicht: So ist das Leben nun mal, und man muss sich damit abfinden. Und ich denke, dieser Roman hilft dabei, indem er die Melancholie in einem so schönen Stil und einer so schönen Form einfängt. Außerdem bewundere ich den Erfindungsreichtum dieses Romans, den sprudelnden Reichtum an Nebenpfaden und Ideen, die Schönheit der Gedankenexperimente, den spielerischen und phantasievollen Aufbau und die oft so schönen Formulierungen. Deshalb habe ich ihn mit einem breiten Grinsen gelesen.